„Wenn aber eine zweisprachige KiTa existiert, dann gibt es dem Kind nicht das Gefühl, ein Außenseiter zu sein.“

Das Aramäische als Sprache ist hochgefährdet. Das wird kaum ein Aramäer bestreiten wollen. Wir wollten jedoch erfahren, wie schlimm es wirklich um die Aramäische Sprache steht und welche Lösungen auch in die Tat umgesetzt werden müssen. Dazu haben wir Herrn Werner Arnold in Heidelberg aufgesucht und im Interview befragt. Er ist seit 2019 als Professor für Semitistik am Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients der Universität Heidelberg emeritiert (1999-2019 Leitung des Lehrstuhls). Er leitet derzeit als Rektor die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg.

Herr Prof. Arnold, Sie haben jahrelang zum Neuwestaramäischen geforscht, verbrachten einige Jahre in den aramäischen Dörfern Maclūla, Baxca und Ğubbcadīn in Syrien, schrieben Ihre Doktorarbeit über das Neuwestaramäische, später sogar ein umfassendes Wörterbuch über den Dialekt und waren als Gastprofessor an verschiedenen Universitäten im Ausland tätig, darunter auch in Israel und Syrien.
Sie haben sehr viele Schriften publiziert. Kurzum: Man kann sagen, Sie sind DER oder einer der wenigen Experten auf dem Gebiet der Semitistik und der aramäischen Sprache.

Wie kam es, dass Sie sich damals für den Studiengang Semitistik entschieden haben?
Zuerst galt mein Interesse der orientalischen Kunst. Über die Kunst kam der Zugang zu den Kulturen des Orients. Jedoch fand ich am Ende die orientalischen Sprachen interessanter.

Sie haben später in Dörfern von Aramäern in Syrien, darunter auch im bekannten Maclūla, zwei Jahre lang die Sprache erforscht. Wie empfanden Sie das Leben dort?
Ich habe sehr viel darüber gelernt, wie man dort lebt. Landwirtschaftliche Tätigkeiten habe ich erlernt, wie man mit Pflug und Esel die Felder bearbeitet. Diese alltäglichen Verrichtungen musss ein Sprachwissenschaftler mitmachen, um die Sprache zu verstehen. Es war eine schöne Zeit für unsere Kinder, auf einem Dorf zu leben, wo es kaum Verkehr gibt. Ich habe ausgesprochen gute Erinnerungen mit der Familie an unsere Zeit in Syrien.

Nun sind die Aramäer aus diesen Dörfern aus Syrien sowie die Mehrheit der Aramäer aus den Heimat-Regionen der Türkei (Tur Abdin) vor vielen Jahrzehnten ausgewandert. Wie haben sich diese Generationen wirtschaftlich, sozial und bildungstechnisch Ihrer Ansicht nach entwickelt?
Nun, vorher war es eine von der Landwirtschaft geprägte Kultur. Die Bildung genossen im Regelfall nur die Priester, Mönche und Messdiener, sprich mehrheitlich die Geistlichen. Dies hatte sich über Jahrhunderte so entwickelt. In Syrien herrschten ab dem 20. Jahrhundert größtenteils andere Verhältnisse. Hier war der Zugang zur Bildung viel besser. Die Mehrheit konnte hier verschiedensten Berufen nachgehen und auch als Akademiker Karriere machen.
Hier in den westlichen Ländern lebte man gewöhnlich nicht mehr im Dorf, sondern in Städten wie Berlin, Hamburg, Paderborn, Heilbronn, Augsburg usw. und damit nicht mehr in direkter Nachbarschaft mit Aramäern, sondern auch mit deutschen Nachbarn. Sie mussten sich auf das Leben hier einstellen. Es haben sich Vereine und Organisationen gegründet, ähnlich wie bei der deutschen Bevölkerung. Die Integration in deutsche Schulsysteme hat stattgefunden. All dies hat den Jugendlichen den beruflichen Aufstieg ermöglicht.
Was dabei zu kurz kommt, ist die Pflege und der Erhalt der aramäischen Sprache. In der Heimat sprach man einfach im Alltag. Die Sprache war nicht bedroht. Deswegen kümmerte sich die Kirche um die Liturgie-Sprache („kthobonoyo“). Hier in der Diaspora kann und soll sich die Kirche um die Liturgie-Sprache kümmern, aber relevant ist die gesprochene Sprache, das Neu-Aramäische, das oft nicht mehr im Alltag gesprochen wird.

Sie kennen die aramäische Sprache, aber auch die aramäische Gesellschaft hier in Deutschland wie kaum ein zweiter. Wenn Sie eine Prognose wagen würden, wie würde diese für die aramäische Sprache für die nächsten 20 Jahre aussehen?
Ich war schon mal skeptischer. In den letzten Jahren gab es positive Bewegungen und Entwicklungen, wie z.B. die TV-Sender, die Bücher u.a. [vom Kreis Aramäischer Studierender (KrAS) und NISIBIN – Aramäische Studien] in aramäischer Sprache. Wenn jetzt auch noch die Deutsch-Aramäischen KiTas entstehen, dann sehe ich das positiv.

Das klingt sehr optimistisch. Gehen wir nun davon aus, dass die aramäischen TV-Sender zu über 90% von der Generation 50+ geschaut werden und die bilingualen KiTas nicht entstehen sollten. Wie sähe Ihre Prognose dann aus?
Dann wird die aramäische Sprache sehr wahrscheinlich sehr bald aussterben, so wie bei den christlichen Maroniten auf Zypern. Die auf Zypern lebenden Maroniten sprechen arabisch. Sie hatten es über viele Jahrzehnte versäumt, arabisch mit ihren Kindern zu sprechen. Jetzt sind die jüngsten Sprecher von ihnen um die 60 Jahre alt. Ich habe ihnen empfohlen, dass die Kinder nun viel Zeit mit ihren Großeltern verbringen müssen. Das ist die einzige Chance, die sie noch haben.
Das gleiche gilt für die Aramäer: Wenn die aramäische Sprache einmal hier in Europa und generell in der Diaspora weg ist, so wird es ganz schwierig werden, diese Sprache wieder einzuführen.

Was sind typische Vorboten, die zeigen, ob eine Sprache gefährdet ist? Und woran erkennen die Eltern bzw. Familien, dass sie sich in einer sehr heiklen Phase der „Sprachexistenzgefährdung“ befinden?
Wenn die Kinder nicht mehr auf Aramäisch antworten, wenn sie auf Aramäisch gefragt werden, sondern nur noch auf Deutsch antworten.
Die Kinder wollen nicht anders sein als die Umgebung. Sie wollen nicht fremd sein. Sie wollen sich nicht von anderen Kindern unterscheiden. Deswegen machen sie es nicht. Wenn aber eine zweisprachige KiTa existiert, dann gibt es dem Kind nicht das Gefühl, ein Außenseiter zu sein.
Wenn das Kind nicht mehr in der Muttersprache spricht, heißt es nicht, dass es die Sprache nicht mehr versteht. Es bedeutet aber wohl, dass dieses Kind später die Sprache sehr wahrscheinlich nicht mehr weitergeben wird, folglich auch nicht an die eigenen Kinder.

Wir sagen, wenn ein großer Teil der Sprache verloren geht, so geht auch ein großer Teil unserer Identität verloren. Welche Rolle spielt die Sprache bei der Identitätsfindung?
Ohne die Sprache wird es ganz schwierig sein, die Identität zu bewahren. Das können wir z. B. bei den „orientalischen“ Christen beobachten, die NICHT aramäisch-sprachig sind. Diesen fehlt schlicht diese Identität. Andererseits halten sich selbst Muslime an die aramäische Identität, wenn sie aramäisch-sprachig sind, so z. B. in den erwähnten Dörfern Baxca und Ğubbcadīn in Syrien. Sie betrachten sich als Aramäer und nicht als Araber. Das bedeutet, dass die Herkunft im Sinne von Volk und Sprache im Vordergrund steht, weniger die Religion.
Deswegen kann ich mir gut vorstellen, dass viele orientalische Christen, auch Arabisch sprechende, zurückkehren wollen zur aramäischen Sprache, wenn es die zweisprachigen Kitas gibt. Denn in den letzten Jahren hat es eine Bewegung gegeben, sprachlich zu Aramäisch zurückzukehren, auch die Maroniten in Israel zählen dazu. Im Dorf der aramäischen Christen in Israel, in der Stadt Gish, lassen sich die Maroniten mittlerweile dort bei den Behörden als Aramäer im Pass eintragen. Es wird von der israelischen Regierung gefördert.

So sehr die Sprache wichtig ist, so früh müssen wir also die Kinder fördern. Aber selbst die Eltern, die bewusst Aramäisch mit ihren Kindern sprechen, berichten, dass ihre Kinder nicht mehr auf Aramäisch antworten, sobald sie eine gewisse Zeit in der KiTa verbracht haben. Diese Erfahrung frustriert die große Mehrheit der Eltern. Folglich hören sie auf, mit den Kindern Aramäisch zu reden. Wie ist diese Situation wissenschaftlich zu bewerten?
Es ist ja fast natürlich, dass die Kinder auf Deutsch, die Sprache ihrer Umgebung und Freunde, antworten, wie ich es anfangs im Gespräch kurz thematisiert habe. Wichtig ist dabei, dass die Eltern selbst auf keinen Fall ins Deutsche übergehen dürfen, was leider in den aller meisten Fällen geschieht. Die Kinder sollen daheim weiterhin zumindest das Aramäische hören. Denn so speichern die Kinder die Sprache im Unterbewusstsein ab und können später ggf. im Jugend-bzw. Erwachsenenalter, ihre Muttersprache wieder aufgreifen und sprechen.
Es ist oft so, dass Kinder ab einem gewissen Alter sich für ihre Geschichte, Kultur und Ahnen interessieren. Und das ist bei den Aramäern definitiv der Fall. Sie fragen sich: „Was hatten wir für eine Kultur? Waren es nur Bauern, die Aramäisch gesprochen haben oder hatten wir eine große Kultur?“ Wenn sie dann erkennen, dass Aramäisch von vielen Menschen in unterschiedlichster Form gesprochen wurde, ist das Interesse groß. Sie erfahren, dass Jesus Christus und viele Gelehrte aramäisch gesprochen haben und dass ihre Kultur eine Literatur hervorgebracht hat, die jeder Mensch kennt. Geschichten wie „Daniel in der Löwengrube“ oder „Das Menetekel an der Wand“ im Alten Testament, das ist aramäische Literatur, das ist weltberühmt.

Was sagen Sie Eltern, die Bedenken haben, ihr Kind könne bei zweisprachiger Erziehung, die Landessprache, also in unserem Fall Deutsch, nicht ausreichend erlernen? Bestünde hier wirklich eine reale Gefahr, dass das Kind die Landessprache nicht erlernen würde?
Nein. Dazu müsste schon viel passieren. Das Kind müsste von der Gesellschaft regelrecht isoliert werden. Die Aramäer leben ja nicht in Ghettos. Für eine so kleine Minderheit wie die der Aramäer in Deutschland besteht diese Gefahr überhaupt nicht. Weil aber das Kind überall von deutscher Sprache umgeben ist, wird es auch die deutsche Sprache mit Leichtigkeit erlernen. In einer zweisprachigen KiTa hat das Kind nur Vorteile und es erlernt eine höhere Sprachkompetenz. Dies wurde in vielen Studien belegt. Die Synapsen im Gehirn vernetzen sich viel stärker. Das Kind kann später eine 3. und 4. Sprache viel leichter erlernen.

Sehen Sie die Gefahr der Isolation der aramäischen Gesellschaft durch Maßnahmen, wie die der Errichtung von Deutsch-Aramäischen KiTas?
Ich frage mich, wie das bei Aramäern gehen soll. Wir sprechen wie erwähnt nicht von einer Gesellschaft, die in Ghettos lebt. Sie leben nicht abgeschlossen, sondern gut verteilt in den jeweiligen Vierteln der Städte und Kommunen. Sich in einer modernen Gesellschaft zu isolieren, halte ich für ausgeschlossen, insbesondere für eine so kleine Minderheit wie der der Aramäer. Wir sprechen von gerade mal 150.000 Bürgern verteilt auf ganz Deutschland.
Die Gefahr ist nicht, dass die Aramäer sich isolieren und kein Deutsch mehr sprechen, sondern vielmehr umgekehrt, dass sie kein Aramäisch mehr sprechen. Die Aramäer sind sehr gut integriert, haben im Regelfall den deutschen Pass und sprechen fließend Deutsch. Deswegen hat eine Deutsch-Aramäische KiTa auch Sinn. Das macht man nicht, um sich zu isolieren, sondern, um die Sprache zu erhalten. Die Integration und das Selbstbewusstsein der Kinder werden durch eine bilinguale KiTa noch mehr gefördert.

Eine letzte Frage zum Schluss: Welche Empfehlungen können Sie uns geben, damit die aramäische Sprache langfristig und mit einer soliden Basis erhalten werden kann?
Man kann z.B. aramäische Lehrer so ausbilden, so dass sie auch ihre Herkunftssprache unterrichten. Sprich, wenn diese eh bereits an den Schulen andere Fächer unterrichten, so können sie über eine Fortbildung für den aramäischen Sprachunterricht fit gemacht werden. In Nordrhein-Westfallen gibt es bereits Aramäisch als Herkunftssprache in den regulären Schulen. Dies kann man sicher auch in den anderen Bundesländern fordern.
Wenn es keinen weiterführenden Sprachunterricht in den Schulen gibt, bleibt die Sprache auf kindlichem Niveau (KiTa-Niveau). Aramäer sprechen noch international in aramäischer Sprache miteinander. Diese Konstellation fördert zusätzlich, das Bedürfnis, sich in aramäischer Sprache zu unterhalten. Die Gefahr besteht, dass man sich dann mit den Freunden und der Familie in Englisch unterhält, falls die Sprache auf kindlichem Niveau bleibt. Deswegen muss man die Sprachkompetenz durch weiterführende Sprachangebote in den Schulen verbessern.

Herr Prof. Arnold, wir danken Ihnen herzlichst für das erkenntnisreiche Interview und wünschen Ihnen für Ihre Zukunft alles Gute.

Das Interview führten:
-Zeki Bilgic, Wissenschaftlicher Koordinator der NISIBIN – Forschungsstelle für Aramäische Studien, Frankfurt
-Saliba Gabriel, Geschäftsführer von Senfkorn Kindertagesstäte gGmbH, Paderborn

 

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Was viele möglicherweise nicht wissen: Die aramäische Sprache ist hoch gefährdet! Die christliche Volksgruppe, die aramäisch spricht, ist sehr klein. Die Flucht vor Kriegen, Verfolgungen und Repressalien im Nahen Osten verursachten mehrere Auswanderungswellen aus den Heimat-Ländern und große Umbrüche in der aramäisch-sprechenden Community. Die gravierenden Folgen: nur ein Bruchteil der Community spricht heute noch aramäisch.

Unsere Vision: Wir wollen bundesweit bilinguale KiTas (Deutsch-Aramäisch) betreiben. Wir sind tief überzeugt, dass wir auf diese Weise bereits im frühen Alter die aramäische Sprache fördern können. Dadurch verbessern wir auch die Integration und die Bildungschancen der Kinder.

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  1. Viel Erfolg 👍🙏🙏

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